THINGS
ONE CANNOT
CONTROL

Andreas Bee, 2010


 

Eine lange, enge Brücke spannt sich über einen reißenden Fluss. Sie ist so schmal, dass nur ein Mensch sie passieren kann. Zwei Männer betreten nun gleichzeitig an den gegenüberliegenden Ufern diese Brücke und treffen sich in der Mitte. Beiden ist bald klar, dass einer von ihnen zurückgehen muss, um dem anderen den Übergang zu ermöglichen.

Was nun passieren könnte, ist schnell erzählt: Erstens: Der Stärkere von beiden erschlägt den Schwächeren und wirft ihn in den Fluss. Zweitens: Die beiden diskutieren eine Zeit lang, bis der Stärkere den Schwächeren erschlägt und in den Fluss wirft. Drittens: Sie verhandeln miteinander und der eine bietet dem anderen etwas an, was diesen zur Umkehr bewegt.

Wären Roland Schappert und ich uns auf jener Brückenmitte begegnet und hätte er mich nicht gleich erschlagen, sondern mit mir verhandelt und mir für meinen Rückzug ein Blatt aus der Serie mit seinen Wortbildern angeboten, dann hätte ich ihm wahrscheinlich dankbar und leichten Herzens den Weg frei gemacht. Meine Wahl wäre, nachdem ich mich einige Zeit lang nicht von dem Bild der jungen Frau mit den schönen großen Augen habe trennen können, auf ein hochformatiges Blatt gefallen, das über einem nicht direkt zu lesenden Textkörper groß das Wort LONELY zeigt. Angezogen durch diese Klage lese ich auf der zweiten, darunter liegenden Ebene folgende Zeilen:

HEUTE DARFST DU MICH KÜSSEN, MORGEN FIKCNEN, ÜBERMORGEN DAFÜR NUR KUSCHELN, MONTAGS DANN MEINE HAND HALTEN, DONNERSTAGS SCHLAFE ICH DANN ALLEINE BIS 11 UND NÄCHSTEN MITTWOCH BIST DU MEIN KULTURATTACHÉE

Es sind also keine stichhaltigen Argumente (denn solche gibt es offenbar nicht), durch die der eine den anderen auf der Brückenmitte zum Einlenken bewegen kann. Es geht letztlich nicht um das Verstehen, es geht nicht darum, Verständlichkeit zu erreichen, es geht um Verständigung, um Kommunikation über das Unverstehbare, Inkommensurable. Zur Lösung des Problems führt in unserem Falle ein Wortbild mit einer schönen, geheimnisvollen Sprache und Grammatik, das stärker als jede rational anmutende Begründung zu überzeugen vermag. Auf eine eigentümliche Weise, die zu erklären nicht gelingen will, erscheinen die in die Kupferplatte geritzten Buchstaben und Worte plausibel. Und wie bei diesem speziellen Blatt mit dem suggestiven Titel LONELY – den man auch LOVELY lesen könnte – ist es immer wieder das Ausschnitthafte, das Unzusammenhängende oder eine irritierende Satz- und Wortkonstruktion, die den Betrachter nicht so leicht loslässt.

Dabei wirken die Texte oft wie am Wegrand aufgesammelte Wahrheiten, die – mal leicht, mal schwer – zwischen Oberfläche und Grund auf- und absteigen. Möglicherweise ist Roland Schappert gar kein Sammler, sondern ein Jäger, möglicherweise handelt es sich gar nicht um Fundstücke, sondern um Jagdtrophäen. Denn es soll ja Leute geben, die gezielt und nur aus dem Grund an einem vorübergehen, um Fetzen einer Rede aufzufangen.

Ich glaube, Roland Schappert ist einer dieser Wort- und Phrasenfänger. Manche seiner Sätze und Begriffe changieren zwischen schwer erträglicher Trivialität, gemeiner Provokation und unangreifbarer Wahrheit. Sie könnten beispielsweise an einer Theke aufgeschnappt worden sein oder überall dort, wo man unbekümmert redet, wonach einem der Sinn steht und wo man lustvoll über Gott und die Welt parliert. In Bierlaune schlägt dann manch einer über die Stränge und mit Sprüchen und Behauptungen nur so um sich.

Doch auch an der Theke bekommt man nichts geschenkt und nur dann etwas zu hören, wenn man sich einlässt und mittrinkt. Man muss eintauchen, sich den Menschen, der Situation und dem Raum widmen, ganz und gar, und darf doch nicht vollkommen aufgehen und sich verlieren in einer Welt, die nicht die eigene ist. Man sollte sich dieses Risikos eines Kontrollverlustes bewusst sein, man muss sich klarmachen, dass man zweimal über die Grenze zu treten hat, dass man ein- und aussteigen muss. Doch die Versuchung, Grenzen und Tabus zu überschreiten ist meist größer als die Angst vor der damit verbundenen Gefahr. Lockt uns eine Situation derart, dass wir Lust bekommen, uns zu verwandeln, um unsere Welt zu verlassen und unerkannt den fremden Raum der anderen zu betreten, müssen wir zunächst einen Weg finden, wie wir eindringen können. Ist uns dies gelungen, dann können wir für eine Weile vergessen, wer wir sind und woher wir kamen. Wir können vernachlässigen, wo wir uns befinden und nicht nur mit den Augen aufgehen in jener Umgebung, die uns eben noch fremd war, nun aber zur realen geworden ist. Nur lange verweilen können wir hier nicht. Zu instabil ist unsere künstlich erzeugte Konstitution. Früher oder später ruft unser Selbst uns zur Ordnung. Dann müssen wir abermals und ohne viel Aufsehen über jene Grenze zurück, über die wir vor kurzem eingereist sind.

Was jemand, der auf einem fremden Terrain wildert, in der eigenen Welt von seiner Beute verwenden kann, lässt sich im Voraus kaum ermessen. Die Chance, eine gute Ernte einzufahren wächst allerdings mit den Jahren und der Übung. Roland Schappert kann offenbar ein- und auftauchen und von seinen Ausflügen beispielsweise in die Welt der Thekensteher Anregungen für seine Lyrik und seine Bilder mitbringen. WUNDERMÄDCHEN und TRÜMMERFRAU sind etwa solche Begriffe, die in Altherrengeschichten vorkommen und auch der Satz SCHEIS... SPIEL DAS ÄLTER WERDEN oder die vermeintliche Feststellung MÄRCHEN MÄDCHEN SPIELEN DAS DUNKLE LIED. Kein Thema ist tabu, doch was in aufgeheizter Atmosphäre mit Vehemenz behauptet wird, gilt meist nur für den Augenblick. Wie etwa die Feststellung LOVE IS NOT THE END oder ein kategorisches NIX FIKCEN.

Andere Sätze wiederum wirken schwerer, scheinen bewusster formuliert worden zu sein und aus einem sehr viel komplizierteren Kontext zu stammen. Der Vorwurf WIE DER PAUSCHALURLAUBER SPIELST DU ZIEMLICH SCHAMLOS zielt beispielsweise direkt auf ein Gegenüber und wirkt wie eine Beleidigung, während ein refrainartiger Vierzeiler von einem Fatalisten stammen könnte:

CHECK EIN, CHECK AUS
CHECK ICH EIN, CHECK ICH AUS?
CHECK EIN, CHECK AUS
CHECK ICH EIN, CHECKST DU AUS.

So also könnte es gewesen sein. Oder auch ganz anders. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Hören und Lesen immer auch Fehllesen und Fehlhören ist, weil der Text stets noch etwas anderes mitteilt, als ursprünglich vom Autor beabsichtigt, auch dann, wenn er auf gar nichts Bestimmtes hinauswollte. Und möglicherweise ist zu allem Überfluss auch noch ein Text im Text versteckt.

Am Ende ist es wahrscheinlich so, dass wir bestenfalls hoffen können, dass der andere ein wenig von dem versteht, was wir meinen gesagt zu haben. Ja, selbst wenn Heinz von Förster recht hätte und es in der Regel der Hörer und nicht der Sprecher ist, der die Bedeutung einer Aussage bestimmt, selbst wenn sich am Ende des Tages schon niemand mehr für die Bedeutung des Geäußerten interessieren sollte und es nur noch um Schönheit und Wahrheit geht, selbst dann evozieren die Textbilder von Roland Schappert Sinn und Bedeutung.

Es reicht also, dass sie da sind und dem einen zu starken Vorstellungen und reichen Bildern verhelfen, während sie dem anderen zur tieferen Ausdeutung völlig untauglich erscheinen mögen.

Manch ein Gutwilliger, der dem Geschriebenen unbedingt eine bestimmte Aussage abringen will, mag vielleicht den Eindruck gewinnen, es ginge immer wieder um die Liebe. Doch selbst wenn es so wäre, hätten wir es mit einem Thema zu tun, das von unlösbaren und wenig erquicklichen Fragen nur so wimmelt.

Warum also der ganze Aufwand? Warum befassen wir uns überhaupt mit solchen Dingen? „Überwältigend unbeantwortbar“. Aber das ist schon wieder ein Zitat. Dieses Mal nicht von Roland Schappert, sondern es stammt aus einem Gedicht von Gottfried Benn:

Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab,
damit wollen wir uns nicht befassen,
das ist für den Kulturkreis besprochen und durchgearbeitet.
Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau
und die ist dringend:
warum drücken wir etwas aus?

Warum reimen wir oder zeichnen ein Mädchen
direkt oder als Spiegelbild
oder stricheln auf eine Handbreit Büttenpapier
unzählige Pflanzen, Baumkronen, Mauern,
letztere als dicke Raupen mit Schildkrötenkopf
sich unheimlich niedrig hinziehend
in bestimmter Anordnung?

Überwältigend unbeantwortbar!
Honoraraussicht ist es nicht,
viele verhungern darüber. Nein,
es ist ein Antrieb in der Hand,
ferngesteuert, eine Gehirnlage,
vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier,
auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus,
er wird vorübergehen,
aber heute ist der Satzbau
das Primäre.

„Die wenigen, die was davon erkannt“ – (Goethe) –
wovon eigentlich?
Ich nehme an: vom Satzbau.

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Gedicht: Gottfried Benn, „Satzbau“, in: Gedichte, hg. von Christoph Perels, Stuttgart 1988, S. 106.


NO MAN’S LAND, Katalog, Hardcover, 64 Seiten, mit ca. 45 Farbabbildungen und Texten von Andreas Bee und Thomas Wagner, deutsch/engl., Salon Verlag, Köln 2010. ISBN 978-3-89770-365-0