„Allein Felsen nur
und die Erinnerung...“
Roland Schapperts Bergbilder und Poetry
Sabine Maria Schmidt, 2003
I.
In der Theorie der Fotografie des 19. Jahrhunderts galt das Medium der Fotografie zunächst als Sprache der Natur und ihre Verwendung wurde als Dienst an der Natur begriffen. Es war eine stumme, erhabene oder beseelte Natur, die die Maschine sich einzufangen zum Ziel setzte. Eine stumme Natur, die folgend aber so oft befragt wurde, dass sie auf viele Vermutungen und Vorbilder zu reagieren begann.
Heute ist die Natur geschwätzig geworden. Sie kann zudem leicht dazu gebracht werden, sich in tausend Formen zu wiederholen. Und die Natur wiederholt durch die Fotografie auch die Bilder der Kunst, die von ihr gemacht wurden. Man könnte sagen, dass die Fotografie mit kapriziöser Gelenkigkeit alle Maler ehren wollte, die sie auf so verschiedene Weise gefeiert haben. Die Fotografie ist schon längst nicht mehr Spiegelbild, sondern eher eine Art organischer Fortpflanzung, wie ein Ebenbild des Urbildes. Sie vermag die gleiche Tiefe und Vielfalt wie das Original zu erreichen. Und auch das Bild hat mehr als eine oberflächliche Bedeutung. Es entwickelt eine Tiefe, die der Ansicht eines Naturerlebnisses entspricht, so dass man ebenso vor dem einen und anderen das Mikroskop als auch das Teleskop halten kann.
Wer den Mallorca-Bildern von Roland Schappert gegenübersteht, mag solche Perspektivwechsel nicht nur sinnlich erleben, sondern auch in übertragender Konzeption erahnen. Heruntergerechnete Dateninformationen flimmern vor dem Auge wie impressionistische Pinselstürme und versöhnen sich aus entfernterer Sicht zu einem hyperrealen und zugleich poetischen Dokumentarismus. Es sind Landschaftsbilder einer Spurensuche, auch wenn faktische Spuren kaum aufzufinden sind. Was mag den Künstler in die mallorquinische Tramuntana zu Fotoaufnahmen treiben? Konnte nicht bereits im 19. Jahrhundert der „Reisende am Kamin“ mit dem Stereoskop an Fotografien eine Rhein- oder Nilreise unternehmen und weit größeren Nutzen daraus ziehen als zuvor mit Studienzeichnungen und Erzählungen? Die Fotografie hat seit ihrer Entstehung eine massive Popularisierung und Nivellierung ästhetischer Werte und Vorstellungen erreicht. Waren es die Bilder von Mallorca, die wie eine Glocke wirkten, die zur Messe ruft?
Schapperts Aufnahmen suchen die Fluchtpunkte zu überprüfen, die sich aus Gesehenem und Nichtgesehenem überschneiden. Fluchtpunkte, die das momentane Erleben eines Augenblicks ebenso berücksichtigen wie historische Erzählung und Topoi der Landschaftsdarstellung. So arbeitet er zwar nicht mit found-footage, bearbeitet aber dennoch auf literarischer, historischer oder populär-ikonographischer Ebene die bereits existierenden Bilder unseres kollektiven Bildarchivs. Hat man solche Bilder nicht doch schon irgendwo so gesehen? Auffallend an seinen Aufnahmen ist das Fehlen zeitgenössischer Zivilisationsspuren, vielmehr erreicht er eine Typisierung, die sie weder zeitlich noch topographisch einordbar werden lässt. Allein ein Moment verbindet die Bilder: die Ruhe des Momentes, die auch notwendig ist, um eine Aufnahme zu machen, eine Ruhe, die die Geschwätzigkeit der Landschaft für einen Moment unterbricht.
Doch ist dies nur die erste Station der Reise, denn Schappert geht es weder um Re-Auratisierung noch um die Rehabilitierung der vor Klischees überstigmatisierten und sonnenverbrannten iberischen Insel. Schappert digitalisiert die analog bis ins feinste Detail festgehaltene Information und komprimiert diese zu groberen Bilderscheinungen, die der so oft gepriesenen und leistungsstarken, pixelgetreuen Abtastung der Information genau entgegenstehen. Durch das bewusste Manipulieren und Verzichten auf Information entwickelt er eine neue Form der „Nachahmung“, bekanntermaßen das Mittelglied zwischen Abweichung und Ähnlichkeit. Ohne Abweichung wäre das Bild nichts anderes als eine Kopie. Eine derartige mediale Transformation weist übrigens eine neue Form von Transzendentalismus auf, das Stichwort der amerikanischen Fototheoretiker des 19. Jahrhunderts (z.B. Thoreau). Hier wird die übertragend-symbolische Kommunikation mit der Natur zumindest über die Maschine gewährleistet.
Der rechnerische Prozess bestimmt auch die ästhetische Gestaltung. Kompression schafft Abstraktion, die farbig-lichten Aufnahmen werden nun auf eine monochromere grau-grüne Farbigkeit reduziert. Den Bildoberflächen kommt dabei eine völlig neue strukturelle Form hinzu, die wiederum auf das Malerische reüssiert. Erstaunlicherweise unterstützen sowohl die technisch glatten Lambdachrome-Papieroberflächen der großformatigen Abzüge als auch die matten Piezo-Prints auf Büttenpapier das diffizile Spiel der Oberflächen, in denen sich Details als halb organische und halb technoide Strukturen zu erkennen geben. Seine Bilder schaffen derart eine Form des Dokumentarischen, die weniger die Landschaft als ihre inhaltlichen und historischen Besetzungen auffächern. Mit ihnen kann sich nicht nur der Betrachter, sondern auch der Autor als Subjekt neu verorten. Und endlich geht es nicht um die Darstellung des Abzubildenden oder Abbildhaften, sondern um die Darstellung der Darstellung.
II.
Dass die zeitgenössischen Medienkünstler auf jegliches mimetisches Verfahren verzichten können, thematisiert Schappert in seinem Poetry-Video „Berggedicht“; ein weiterer Perspektivwechsel. Doch auch hier ist Vorsicht geboten. Was in dem Video wie die Konstruktion einer virtuellen kameralos konstruierten Landschaft, also einer Simulation von Naturklischees, wirkt, entpuppt sich als Pixelbild eines realen Hochgebirges aus Mallorca. Als reales Spurenelement kann die virtuelle Repoussoirfigur nicht mehr gelten, die der Zoom immer mehr ins Bild rückt. „Face to Face“ deklamiert der weibliche Avatar ein „Berggedicht“. Mit ihrer künstlichen Gestik und ihrer menschlich synchronisierten Stimme philosophiert die „Bergfrau“ über „digitale Gipfelpumps“ und „Ranken um rosa Söckchen“ und katapultiert sich gänzlich in die gegenwärtige Mallorca-Ballermann-Kultur hinein. Mit den bisweilen verqueren, endlos geloopten und fragmentarisch gesampelten Textversatzstücken jongliert der Künstler und Autor Schappert nicht nur mit ebenbürtigen Sprachklischees, die touristische Erlebnisse nobilitieren, sondern auch auf den ursprünglichen Inhalt eines Landschaftsgemäldes, der Widerschein des subjektiven Lebens im Reiche des objektiven Naturerlebens ist. In ironischer Brechung wird auf einer literarischen Ebene auch die Hochzeit von Sentiment und Staffage in der Landschaftsmalerei des frühen 19. Jahrhunderts in Erinnerung gerückt. Mit der Verwendung von „Staffagefiguren“ entstehen nämlich zwei Sprachen, zwei Mittelpunkte in einer Darstellung, die einander aufheben, wie es Friedrich Theodor Vischer (1807 - 1889) in einem Text über den „Zustand der jetzigen Malerei“ beleuchtete. Im Landschaftsgemälde sei das eigentliche Subjekt die Natur, nicht der Mensch. Tritt dieser mit dem Anspruch darin auf, dass wir uns für ihn interessieren, so hat das Gemälde zwei Subjekte, und die Einheit ist aufgehoben. „Die Staffage muss daher durchaus anspruchslos sein, sie darf den Menschen nur in Zuständen darstellen, in welchen er, fern von moralischen Zwecken und Kämpfen, harmlos das elementarische Leben gleichsam durch sie hindurchziehen lässt... Namentlich sei die Kleidung nicht preziös und erinnere nicht zu augenscheinlich an die künstlichen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft“ (Vischer).
Ob das die „Entfernung der Natur“ erklärt, die die langsame Kamerafahrt am Ende genussvoll inszeniert, in der die immer realer erscheinende Landschaftskulisse in die Ferne schweift und das geschwätzige Cybergirl alleine zurücklässt?
III.
Roland Schappert arbeitet an den Übergängen der Medien, an den Nahtstellen verschiedenster Informationswelten, an Situationen, die „kippen“. So wie schon medial vermittelte Bilder immer Übersetzungen eines „Ursprungstextes“ sind, werden diese von ihm immer wieder neu transformiert und übersetzt und verändern die ursprüngliche Fassung dabei weiter. Seine Arbeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht die Ursprungsbilder zu rekonstruieren suchen, oder einem rein bildnerisch medienkritischen Verfahren verhaftet bleiben, sondern eine „mediale Unentschiedenheit“ zum Ausgangspunkt für Neufindungen werden lassen. Diese sind wie z.B. sein Video „TV-Movie“ (1999) oder „Mord im Hochformat“ (1999/2000) durch Sampling und eine „hybride Medialität“ charakterisiert. Durch diese offenen „Momente der Unentschiedenheit“ entstanden zahlreiche Projekte und Kooperationen mit Schriftstellern, Musikern und Künstlern; Projekte, die sich schneeballartig weiterschreiben. Die Serie „Trinken“ (2002) umfasst ein Videoloop, Fotodrucke und Zeichnungen, die nach den Videobildern entstanden, ebenso wie eine imitierte Cocktailkarte, die ein E-mail-Interview enthält. Anlässlich des art forum Berlin 2002 hinterfragte Schappert, was Kunst in einer Künstlerbar zu suchen habe und frei nach der Kippenbergerschen Formel „Lieber Maler, male mir ein schönes Bild für meine Lieblingsbar“, wurden Besucher vorab gefragt, welches Bild sie in der Bar bevorzugen würden. Im Zentrum der Ergebnisse steht das als Video aufgezeichnete Interview der Barbesitzer, das ein junges, rauchendes Paar fokussiert ebenso wie ihr kleines Kind, das nach alkoholischem Getränk greift. Das Video inspirierte den mit dem Künstler befreundeten Schriftsteller Michael Ebmeyer zu einer Kurzgeschichte, die wiederum als neue Tonspur mit dem Video verknüpft wurde. Dabei laufen Loop des Textes und Loop des Bildes konträr und schaffen eine kaum merkliche und ständig sich wandelnde Bedeutungsverschiebung und Änderung. „Schon möglich, dass uns das auf Dauer nervös macht... .“
Dieses Video bildet das Bindeglied weiterer Stationen einer Wanderung, die unterschiedlichste mediale Brücken zu überqueren und zu bauen sucht. So entstehen in seinem jüngsten Projekt „Sounds im Auge“ – zusammen mit dem Schriftsteller Michael Ebmeyer, dem Lyriker Dieter M. Gräf und der Sängerin Barbara Schachtner – neue und eben nicht illustrative Verbindungen, in denen kurze Literaturstücke auf Bilder, Zeichnungen auf Gedichte, Gesang auf Videosequenzen und elektronische Soundcollage wiederum auf Text reagieren. „Sounds im Auge“ ist ein Projekt intermedialer Sprachfindung, eine Suche neuer Sichtweisen gewachsener Landschaften.
POETRY KOOPERATIONEN. MIT GÄSTEN, Künstlerbuch, 72 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und Texten von R. S. und Michael Ebmeyer, Dieter M. Gräf, Joachim Ody sowie Sabine Maria Schmidt, Salon Verlag, Köln 2003. ISBN 3-89770-202-9