KUNST UND WIRTSCHAFT – EINE REISE AUF SCHIFF OHNE LOTSEN
Stefan Horsthemke, 2013
Kunst & Kommerz – Zwischen Passion und Spekulation, so der Titel des in den 1960er-Jahren erschienen Buches von Willi Bongard. Ein Skandal, ein Tabubruch. Heute gibt es kaum ein Regal in den Räumen des sogenannten Bildungsbürgertums, kaum eine Abteilung in den großen Buchhandlungen, wo sich nicht ‚Art & Investment‘- Titel aneinanderreihen. Längst ist das Thema nicht mehr verbannt in die Feuilletons – kein Wochenende vergeht ohne neue Rekorde, neue Zahlen, Daten und Fakten. Eine Liebe, die ungeliebt ist. Und doch eine Liebe, die nicht neu ist. In der Kunstgeschichte hätte es ganz entscheidende, heute ikonische Werke nicht gegeben und nicht geben können, wären sie nicht von finanzkräftigen Mäzenen in Auftrag gegeben oder zumindest unterstuützt worden. Und in dieses ganze Spiel drängt, nicht neu, die Frage nach dem Wert der Kunst. Rein wirtschaftlich gesehen sicherlich in Grenzen messbar, berechenbar. Aber was macht die Kunst eigentlich mit uns, was ist ihre Aufgabe?
Roland Schappert geht dorthin, wo es wehtut, an einen Ort, wo wir unsere Zukunft ausbilden – zumindest die Zukunft, die darüber entscheiden wird, wie wir uns wirtschaftlich entwickeln, die Einfluss nimmt auf unser zukünftiges Leben. Und zuerst tut es auch gar nicht weh. Eine exzellente Hochschule, die das tut, wofür sie da ist: Menschen auf höchstem Niveau mit allen wirtschaftlichen Fähigkeiten ausstatten, die sie brauchen werden, um ihre und unsere Zukunft erfolgreich zu gestalten. Und nun mittendrin etwas, das an Graffiti erinnert. Gemalt beispielsweise in die öffentlichen Etagenflure. Zeichen auf einer langen orangefarbenen Wand, die zu Buchstaben werden – Buchstaben, die sich schließlich zu einem Satz fügen: LOTSENSCHAFT HAT GRENZEN, DAS OFFENE MEER. Ein Satz, der uns alle kurz innehalten lässt, der uns das spüren lässt, wozu die Kunst da ist – ein Satz, der uns ins Bewusstsein ruft, dass es am Ende an uns liegt, was wir machen, und an den Studenten, was sie machen, wenn sie den vergleichbar sicheren Hafen der Hochschule verlassen.
Roland Schappert ist kein Künstler, der nur mit Worten arbeitet. Der endgültige Satz – sorgfältig erarbeitet und mühsam entziffert – ist genauso zentrale Aussage seiner Arbeit wie die formale Umsetzung. Hier reihen sich nicht Buchstaben und Wörter aneinander, so wie wir es gewohnt sind, sondern jeder einzelne Buchstabe an sich ist ein Kunstwerk. Der Künstler spricht vom offenen Meer – und damit von den unendlichen Möglichkeiten. Er schreibt, aber er tut es nicht im herkömmlichen Sinn. Er schreibt, ohne sich an das zu halten, was wir erlernt haben, er spielt mit dem Betrachter. Vielleicht ist es die zentrale Botschaft an die Studierenden und eine Antwort auf die Frage nach dem Wert der Kunst. Schappert regt an, das Gelernte eigenständig umzusetzen, neu zu konzipieren und es für uns selbst zu interpretieren. Wir alle haben gelernt zu lesen und zu schreiben, der Künstler aber lehrt uns, einen alternativen Weg zu gehen und unsere Projektionen Wirklichkeit werden zu lassen. Es ist auch eine Forderung, die er an sein Publikum stellt. Das offene Meer. Lotsenschaft hat ihre Grenzen. Was jeder daraus macht – die Zukunft wird es zeigen, die Kunst hat keine Antwort, sie wirft nur die Frage auf.
Man steigt ein Stockwerk höher. Wieder arbeitet der Künstler mit den örtlichen Gegebenheiten, wieder zuerst der Graffiti-Effekt. Auf den zweiten Blick – wie auch schon bei der ersten Arbeit – erinnern einzelne Bildelemente vielleicht an Paul Klee, Matt Mullican oder Christopher Wool – neu interpretiert, angewendet im Rahmen der Gesamtschrift. Der Buchstabe als Kunstwerk. Möglichkeiten, die sich uns öffnen. Und wieder ein Satz. Ein Satz, der uns daran erinnert, was unsere Verantwortung ist, wie privilegiert wir sind. WHILE OTHERS WERE BUSY PLUCKING WOOL FROM THE BACKS OF SHEEP. Muss man mehr sagen?
Und weiter und höher, dorthin, wo der Künstler uns schließlich wehtut. MACHT DEIN GLÜCK DICH GLÜCKLICH. Ein Schriftbild ohne Fragezeichen. Und doch erscheint zugleich die alte Frage nach dem, was Glück eigentlich ist. Wirtschaftlich gesehen lässt sich eine Vorstellung von Glück relativ klar definieren. Doch in einer Zeit, die auf Konsum ausgerichtet ist, in einer Umgebung, die unsere Zukunft ausbildet, nun die Frage, was glücklich macht, wie man sein Leben gestalten möchte – gibt es mehr? Und die Antwort – ist auch eine Antwort auf die Frage: Was ist die Aufgabe der Kunst?
In deutlichem Kontrast zu den Wandarbeiten stehen die Arbeiten des Künstlers auf Leinwand und Papier. Schemenhaft anmutende Porträtzeichnungen, kombiniert mit den Kernaussagen der Ausstellung. Hervorgehoben sei hier das zentrale Werk, der Titelgeber der Ausstellung: REISE FIBER. Ein Schiff, Wolken, die keine Wolken sind, Wellen, die keine Wellen sind – ein Schiff, frei segelnd im offenen Meer, das kein Meer ist. Ein Fieber, das wir alle spüren und doch ein ‚Fiber‘ – eine virtuelle Interpretation. Der Künstler führt uns auf seinem Schiff ohne Lotsen auf ein offenes Meer, das es nur im virtuellen Raum gibt und damit gleichzeitig dahin zurück, wo wir gestartet sind. Zur Wirtschaft, zu den Daten, den Zahlen und Fakten. Es bleibt eine Reise, es bleiben die Daten, Zahlen, Fakten und eine künstlerische Arbeit, die eine klar strukturierte Projektionsfläche bietet. Der Betrachter kann sie mit seinen eigenen Erfahrungen und zukünftigen Erwartungen anreichern.
Wir sind wieder dort, wo wir angefangen haben und gleichzeitig ein Stück weiter. Die Realität bleibt bestehen oder hat uns wieder eingeholt, doch was wir daraus machen, ist unsere Sache. Wir haben damit angefangen, von Kunst und Kommerz zu sprechen, von der Aufgabe, die der Kunst über den rein wirtschaftlichen Aspekt hinaus zukommt. Wir haben von einer Liebe gesprochen, die ungeliebt ist. Einer Liebe, die an einem vielleicht auch ungeliebten Ort durch Roland Schappert ihre Manifestation gefunden hat. Aber LOVE IS NOT THE END. Und das, was bleibt, ist das offene Meer und ein Schiff ohne Lotsen.
Roland Schappert, Künstlerkatalog: REISEFIBER,
Klappbroschur mit 32 Seiten, 26 Farbabbildungen, Text deutsch/engl.
Hrsg: Gerhard Theewen, Salon Verlag, Köln 2013
ISBN 978-3-89770-438-1