„Während wir warten, schreiben wir Scripts an die Wand. Wie einem das durchgeht.“Jörg Fauser, Tophane
Der Alleinunterhalter. Klingt wie ein Buchtitel von Thomas Bernhard. Wie: Der Stimmenimitator. Oder auch: Der Untergeher. „Ich hätte besser spielen müssen als Glenn Gould“, ist da zu lesen. „Das war aber nicht möglich, war ausgeschlossen, also verzichte ich auf das Klavierspiel. (…) Dem Philosophischen werde ich mich von jetzt an widmen, dachte ich, wie ich zum Lehrer ging, wenn ich naturgemäß auch nicht die geringste Ahnung haben konnte, was dieses Philosophische sei. Ich bin absolut kein Klaviervirtuose, sagte ich mir, ich bin kein Interpret, ich bin kein reproduzierender Künstler. (…) Wenn wir dem Ersten begegnen, müssen wir aufgeben.“1 „Dem Ersten“ begegnen wir immer und überall, seitdem es Datenträger gibt. Angefangen hat es mit dem Buchdruck. Seither stehen sie im Regal, Buchrücken an Buchrücken, die Größen der Literatur, ob alphabetisch sortiert oder dialektisch angeordnet, wozu Bertolt Brecht tendierte, als er die Schriften einander widerstreitender Geister nebeneinander platzierte. Besser schreiben als Shakespeare, Schiller, Sterne, Büchner, Brontë, Kafka oder Bradbury? Wie denn? Später kamen Schallplatte, Fotografie, Film, DVD und Podcast hinzu. Derart konserviert ist alles gleichermaßen verfügbar, jederzeit zu hören, zu sehen, ohne große Anstrengung miteinander zu vergleichen. In reproduzierter Form. Besser komponieren als Bach, Beethoven, die Beatles oder John Cage? Bessere Bilder hervorzaubern als Piero della Francesca, Pablo Picasso, Barnett Newman oder Blinky Palermo? Bessere Musik machen als Velvet Underground, John Lee Hooker oder Nick Cave? Bessere Filme drehen als Kubrick, Godard und Jarmusch? Lächerlich! Wer multimedial vernetzt und an das World Wide Web angeschlossen ist, das sämtliche kulturellen Leistungen der Vergangenheit und der Gegenwart omnipräsent hält, vermag kaum zu glauben, dass die Welt je mit Ungeduld auf die Hervorbringungen eines Einzelnen gewartet hat. Es ist doch alles schon da.
Die Nachahmung des Auswendigen
Einem, der nichts anderes sein will als ein reproduzierender Künstler, widmete Roland Schappert im Jahr 2005 eine Rauminstallation: dem Alleinunterhalter. Sein Metier ist das der musikalischen Untermalung gesellschaftlicher Rituale. Er ist ein Schausteller, den man engagieren kann, sofern man die Absicht hat, auf Hochzeiten, Betriebsfeiern und Geburtstagsfesten in trautem Familien und Freundeskreis zu singen, zu schunkeln und Polonaise zu tanzen. Solch eine Mensch gewordene Jukebox sollte tunlichst im Repertoire haben, was die Tischgesellschaft in und auswendig kennt: Abba und Freddy Quinn, Heino und Tina Turner, Frank Sinatra und Howard Carpendale. Je weniger er vom „Original“, der Version „des Ersten“ abweicht, um so eher erreicht er sein Ziel und bereitet seinem Publikum „den infantilen Spaß an der Nachahmung des Auswendigen“,2 den es sich so sehr wünscht.
Anzeichen der „Nachahmung des Auswendigen“ ausfindig zu machen, ist Roland Schapperts genuines Interesse. Daher begnügt er sich nicht damit, den Strahlemann am Keyboard, den Pseudo-Kapitän mit Schifferklavier und die kokette Blondine vor einer Hammond-Orgel in verschiedener Medialität wie Zeichnung, Foto und Video in einem Raum zu versammeln. Über den Status der Vor-Bilder gibt es keinen Zweifel: Auch wenn sie so stark gepixelt sind, dass sich malerische Effekte ergeben, so sind sie doch allesamt Reproduktionen von Reproduktionen – und per Suchbegriff aus dem Internet gefischt. Auf originäre Entwürfe kann Roland Schappert getrost verzichten, ist das Publikum doch auch in der Kunst viel mehr auf die Freuden des Wiedererkennens, des Wiederhörens, des Wiedererzählens des bereits Bekannten aus. Entsprechend reagiert es auf einen Quertreiber, der darauf besteht, Eigenproduktionen vorzutragen. Ein Alleinunterhalter, der die Absicht hat, nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu unterhalten, indem er zum Besten gibt, was er im Alleingang komponiert hat, wird schlichtweg nicht gebucht.3
Echte Gefühle
„Manche Leute sagen, dass das, was im Film passiert, unwirklich sei, aber tatsächlich ist es so, dass das, was dir im Leben passiert, unwirklich ist. Im Film sehen die Gefühle immer so stark und echt aus, aber wenn dir selber was passiert, kommt es dir vor, als sähest du alles nur auf dem Bildschirm – und du fühlst rein gar nichts.“4 Echte Gefühle? Gibt es die? Oder sind sie ausgeborgt von jenen Phantasiefiguren, die uns in der Literatur, im Kino oder in unseren Träumen begegnen? In den Geschichtsbüchern sieht er nicht gerade aus wie ein Märchenprinz: Wilhelm I., König von Preußen und deutscher Kaiser. Pickelhaube, Uniform und Backenbart geben ihm ein Gepräge, das man getrost für die Erfindung eines phantasiebegabten Requisiteurs halten könnte, der einen pompösen Historienfilm auszustatten hat. Und auch sonst machte Wilhelm I. nicht unbedingt eine gute Figur: Sieht man einmal von der unrühmlichen Rolle ab, die er bei der Niederschlagung der Revolution von 1848 spielte, so musste er sich stets mit einem Platz in der zweiten Reihe begnügen, hinter Bismarck, dem Ministerpräsidenten und Reichskanzler, der mit Macht und Willenskraft die Geschicke des Landes lenkte. Wilhelm I. – eine Staffagefigur auf der politischen Bühne? Nicht nur. Wie Roland Schapperts Recherche ergab, auch eine tragische Gestalt auf der Bühne des Lebens. Denn seine große Liebe, die polnische Prinzessin Elisa Radziwill durfte er, um der Staatsräson willen, nicht zur Frau nehmen. Stattdessen heiratet er 1829 Prinzessin Augusta.
Im Rückgriff auf das Material, das ihm zur Verfügung stand, um diese in Vergessenheit geratene Episode der „Verbotenen Liebe“ zu rekonstruieren, blättert der Künstler eine Geschichte auf, bei der sich Mentales und Mediales verschränken und gegenseitig bedingen.5 Spuren der Dreiecksbeziehung von Elisa, Wilhelm und Augusta, von Roland Schappert kurz „EWA“ genannt, filtert er zunächst aus Zeitungsartikeln, antiquarischen Büchern, Fotografien und Briefwechseln heraus. Die Heterogenität dieser Bruchstücke aus dem 19. Jahrhundert unterstreicht er zusätzlich, indem er die Porträts der Beteiligten, vom Jugend- bis zum Herrscherbildnis, in Form von Zeichnung und Malerei wiederholt – und so als Coverversion in die Gegenwart überführt. Wie es war? Wer kann das wissen? Vielmehr geht es darum, den narrativen Code – auf sein Grundgerüst und seine medialen Bestandteile reduziert – zu entschlüsseln, aber eben nicht mit dem Ziel, die Geschichte zu entzaubern, sondern in ein zeitgemäßes, ästhetisches Gebilde zu überführen. Denn auch das Märchen braucht ein Zuhause. Weshalb Roland Schappert „EWA“ um einen Bilderzyklus typischer Märchenschlösser bereichert, deren Vorlagen er per Suchmaschine in den Herzkammern des Internets ausfindig gemacht hat. Und siehe da, nicht nur der Traum von der schicksalhaften, nie enden wollenden
Liebe, auch das Märchenschloss lebt – in Gestalt von Neuschwanstein, diversen Romantik-Hotels und Barbie-Burgen.
Weisst Du noch?
Es gibt sie nicht mehr, die Leiden der jungen Wörter. Allesamt sind sie zigfach gebraucht, ausgesprochen, geschrieben. Dann und wann werden sie frisch gereinigt, und schon stehen sie bereit zur Wiederverwendung. Die Sätze, die Roland Schappert palimpsestartig zu Papier bringt und auf die Leinwand notiert, sind Songtexten entnommen. Oder das Ergebnis eigener Produktion. Mittels Kreide, Schellack und Firnis der Kunst in Bildform verabreicht, schillern sie zwischen Wiederholung und Neuformulierung. Zu lesen sind sie kaum, es sei denn, man ist bereit, die Lücken zu überbrücken, das Durchgestrichene gedanklich zu rekonstruieren, die Fragmente zusammenzufügen und die aus dem Zeilensprung resultierende Trennung rückgängig zu machen. Erst dann werden aus isolierten Buchstaben und Wortfetzen Sätze. Manchmal sogar vollständige, wie „Hätten wir uns zur Primetime getroffen“ oder „Du kannst mir vertrauen, ich küsse nur Singles und bleibe bei Dir“. Sie scheinen auf, wenn man nicht damit rechnet, das Bild gerade beiläufig aus dem Augenwinkel mustert, sich nicht allzu sehr konzentriert, sondern die Worte kommen und gehen lässt, ohne ihnen eine klare Bedeutung, einen Sinn zuordnen zu wollen. Aber auch dann ist der Sprache zu misstrauen, denn mitunter handelt es sich um Übersetzungen, die im Internet mit Hilfe von Sprachsoftware angefertigt wurden. Entsprechend ungelenk und fremd kommen die Sätze daher.
Dem, was wir hören und sehen, liegt eine Schriftkultur zugrunde. Auch der Malerei. Worte werden gewechselt. Das heißt, man erhält sie gebraucht zurück. Ein Vorgang, der sie keineswegs entwertet. Im Gegenteil. Je öfter sie in verschiedenen Kontexten und Konstellationen auftauchen, umso vielschichtiger werden sie, umso mehr Erfahrungen und Erinnerungen bleiben an ihnen haften. Aus diesem Reservoir schöpfen Künstler, Schriftsteller und Filmemacher seit jeher. Den Anstrich des Authentischen können sie sich im Zeitalter von Pop II getrost schenken.6 Stattdessen nehmen sie in Empfang, was andere hinter sich gelassen haben, ob vor vielen Jahren oder vor wenigen Augenblicken. Jacques Derrida spricht in diesem Zusammenhang von einer Gabe und beschreibt damit eine strukturelle Beziehung, die außerhalb der geregelten Ökonomie und Tauschgesetze stattfindet. Etwa die Versendung eines Textes an so viele Adressaten wie irgend möglich. Eben das ist die Macht einer rhizomartig wuchernden Struktur der Vervielfältigung, die von Geoffrey Bennington als „Derridabase“, als hypertextuelle Datenbasis beschrieben worden ist, die jeden Text nach Belieben aufrufen kann.
Auf Wiedersehen
Wer wollte da noch „der Erste“ sein, wenn er stattdessen Teil eines zirkulären Geschehens sein kann, in dem Werte und Symbole angeboten, entgegengenommen und ausgetauscht werden, ob bewusst oder unbewusst? Viel besser ist es doch, so „begabt“ wie möglich zu sein, sich mit so vielen Bildern, Texten und Songs wie möglich zu versorgen – und diese abermals einzuspeisen in die „Derridabase“. Wie eine solche im Ausstellungsraum aussehen kann, zeigt Roland Schappert in „Black“. Schellackplattenschwarz glänzen die Bilder, Amy Winehouse, James Brown und Johnny Cash sind in Umrissen präsent, und eine alte Discokugel liegt am Boden. Doch nicht den Restbeständen des Disco-Zeitalters ist der Silberregen zu verdanken, der die Wände netzartig überzieht. Das wäre zu einfach. Die Lichteffekte, eine Reminiszenz an Laszlo Moholy-Nagys Licht-Raum-Modulator, resultieren aus einem raffinierten Zusammenspiel von sich im Kreis drehender Spiegelscherbe, Spotlight – und Zufall. Hier kommt eins zum anderen. Nichts steht für sich, nichts hat nur eine Ursache. Roland Schappert inszeniert ein Beziehungsgeflecht aus Vorgefundenem und Selbstgemachtem, aus Nehmen und Geben. Seinen Höhepunkt erreicht seine Feier der Wiedergabe im Abspielen eines aus dem Internet entliehenen Videoausschnitts des Films „Der Kongress tanzt“ aus dem Jahr 1931. Der Loop ist nur indirekt und fragmentarisiert – im Spiegel sowie in einer symmetrischen Verdopplung der linken Bildhälfte – zu sehen. Was Lilian Harvey und Willy Fritsch singen, kann man nicht hören, nur mühsam nachbuchstabieren: „Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder.“ Stimmt: Nur einmal, das kommt nicht wieder.
Nebenbei streift Roland Schappert in „Black“ die Metaphorik einer Gegenkultur, die doch ebenso den Regeln der Unterhaltungsindustrie unterworfen ist wie alles, was die Pop-Kultur anzubieten
hat. Hier geht es um die Farbe Schwarz, die im Blues, in der Black Panther-Bewegung, im Punk eine entscheidende Rolle spielt. Schwarz ist das Erkennungszeichen der Outlaws und indiziert jene, die sich auf der dunklen Seite des Lebens eingerichtet haben, auch die „white negroes“, die „schwarze Musik“ herausschreien, um ihre Außenseiterphantasien zu füttern. Schon Deleuze und Guattari haben darauf hingewiesen, welche „besonderen Probleme der ‚Gesichthaftigkeit’ sich
stellten, als Weiße ‚mit schwarzem Gesicht’ sich die Redewendungen ehemaliger Sklaven aneigneten, aber die Schwarzen daraufhin noch eine zusätzliche Farbschicht auflegten und ihre Tänze und Gesänge zurückeroberten und dabei sogar die der Weißen umformten und übersetzten.“7 Eben dieser Praxis bedient sich auch Roland Schappert. Als Künstler, Interpret und Philosoph in einer Person versteht er sich darauf, immer noch eine zusätzliche Farbschicht aufzulegen, aber auch die Bilder, die Rituale, die Gesänge und die Schrift umzuformen und zu übersetzen. Derart angereichert wird die Kunst zur Flickermaschine, die unterschiedslos alte wie neue Bilder und Texte, Erinnerungen und Vorahnungen aufscheinen lässt.
1 Thomas Bernhard, Der Untergeher, Frankfurt am Main 1983, S. 14 – 15.
2 Theodor W. Adorno, Kleine Schmerzen, große Lieder, in: Minima Moralia, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt am Main, S. 242.
3 Aber von Roland Schappert im Kontext der Kunst reflektiert: Wer wollte, konnte eine Musikbox öffnen, die im Ausstellungsraum stand, und die Eigenkompositionen des erfolglosen Alleinunterhalters hörbar macht.
4 Andy Warhol, Die Philosophie des Andy Warhol von A bis B und zurück, München 1991, S. 91.
5 Die Rauminstallation war im Sommer 2007 in der Galerie Martina Detterer, Frankfurt am Main, zu sehen.
6 Der Begriff Pop II geht auf Diedrich Diederichsen zurück, der konstatierte, seit den Neunzigern sei Pop als zeitdiagnostischer Dummyterm im Einsatz. Diedrich Diederichsen, Alles ist Pop. Was bleibt von einer Gegenkultur, in: Süddeutsche Zeitung,
8. August 1998.
7 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 190.
Reflect me the light, Künstlerbuch, Hardcover, 96 Seiten mit 113 Abb. und Texten von Stefanie Kreuzer, Annette Tietenberg, Thomas Wulffen und Arne Zerbst, deutsch/engl., Salon Verlag, Köln 2009. ISBN 978-3-89770-318-6