Das helle Dunkel
Palimpsest und Polysemie
bei Roland Schappert
Arne Zerbst, 2009
„Videmus nunc per speculum in aenigmate / Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild“. [Biblia Sacra Vulgata: 1 Kor 13, 12]
Eine Landschaft: Spiegelnde Täler, gewellte Hügel und matte Ebenen breiten sich unter einem Nachthimmel aus. Gebogene Leinwandschnipsel – tiefschwarz und glänzend – bedecken ein unregelmäßig bemaltes Leinwandrechteck. Zunächst erkennen wir nichts Genau eres, denn Licht taucht das Schwarz ins Dunkel. Eine Lampe an der gegenüberliegenden Wand wirft ihren Schein punktgenau auf unser Bild. Gerichtetes Licht, inszenierter Raum.
Eine Paradoxie: Das Licht zeigt nicht, sondern verbirgt. Die Spiegelung als Schleier. Der Maler in Diego Velázquez’ Werk „Las Meninas“ fixiert sein Modell, das außerhalb des Bildes auf dem Betrachterstandpunkt steht. Da nur die Rückseite des im Bild bearbeiteten Gemäldes zu sehen ist, bleibt das Modell unsichtbar. Der Spiegel jedoch, der unbeachtet aber zentral an der hinteren Wand des Raumes hängt, zeigt deutlich zwei Figuren, die historisch identifizierbar sind als König Philipp IV. und seine Frau Marianna. Damit ist der Rezipient von seinem Ort verdrängt und ausgeschlossen aus dem Kreis von Maler, Modell und Spiegel.
Der Spiegel in der Kunstgeschichte: Eine unendliche Reflexion. Sicher hat Velázquez den berühmten konvexen Spiegel aus Jan van Eycks „Die Hochzeit des Giovanni Arnolfini“ gekannt, denn das Werk befand sich damals im Besitz des spanischen Hofes. Velázquez offenbart mit seinem Spiegel dem Betrachter, daß er durchsichtig unsichtbar nur eine leere Mitte des Bildraumes ist. Foucault hat darauf hingewiesen im Eingangskapitel seiner „Ordnung der Dinge“. In „Las Meninas“ läßt sich also das Verschwinden des Betrachters beim Zuschauen diagnostizieren.
Auch Roland Schapperts schwarzes Bild ohne Titel spiegelt dem Betrachter eine Verwirrung wider, die so nur im Angesicht der Kunst unvermittelt hervorbrechen kann. „Turbatus sum / Ich bin verwirrt“, bekennt Descartes am Beginn sei ner zweiten „Meditation“, bevor er zum sicheren Wissen aufsteigt. Doch wir stehen nicht am Rande einer philosophischen Einsicht, sondern wir werden bestürmt von der sinnlichen Präsenz der Kunst. Wir brauchen Zeit mit der Kunst, Zeit, uns zu sammeln. Sie spielt mit uns und lädt uns ein mitzuspielen. Wir müssen den Standpunkt wechseln und das Bild mit Kopf und Körper verschatten, damit wir etwas erkennen können. Licht und Dunkel tauschen ihre Rollen. Der Schatten macht sichtbar. Erkenntnis ist bei Roland Schappert eine Frage der Bewegung.
Allmählich heben sich aus dem dunklen Grund dunkle Buchstaben heraus. Auf dem 50 x 40 Zentimeter großen Gemälde aus Alkydharz, Draht, Firnis für Ölfarbe, Leinwandschnipseln, Ölfarbe, Pigment, Sand und Spirituslack auf Leinwand können wir endlich lesen: LONELY. Poetisch modellhaft steht dieses Wort da. Wo ist der Zusammenhang? Eine Buchstabenfolge aus unbekanntem Kontext? Erneut sind wir einsam und allein gelassen mit dieser Kunst. Sie wirft uns auf uns selbst zurück und bringt uns genau dadurch ins Denken. Den Möglichkeitsraum der Farbe zeigt Schelling prägnant auf: „Der allgemeine Charakter der Farbe ist: heller als schwarz, dunkler als Licht zu seyn“. Roland Schappert bringt die Extreme zusammen, zwischen denen sich die Malerei entfaltet, indem er dem Schwarz ein Licht aufsetzt. Bei ihm ist das Helle dunkel und das Dunkle hell. All diese Erkundungen des ganz Hohen und ganz Tiefen vollziehen sich in seiner Kunst nicht mit der mythengeschwängerten und schwerfälligen Tiefgründigkeit, für die wir Deutschen so anfällig sind, sondern mit der ironischen Leichtigkeit und Freiheit dessen, der sich nicht festlegen läßt und bekennt: „Wiederholung langweilt!“ Der Künstler entzieht sich mit seiner Kunst.
Auch seine Materialien hat Roland Schappert virtuos aufgeladen mit den verschiedensten Bedeutungsebenen. Schellack erinnert beispielsweise an die guten alten Platten und gemahnt in seiner bedrohlich glänzenden Sinnlichkeit an Darth Vaders Kluft ebenso wie an das Latexkostüm einer Domina. Es ist die dunkle Seite der Kunst Roland Schapperts, die nun aufscheint. In der Installation „Black“ hat er seine Nähe zum Dunklen dokumentiert. Die Bildobjekte, Schellacklampen, Videoloops, Soundinstallationen und Zeichnungen umkreisen unter anderem die drogengesättigt exzentrischen Lebensbahnen von James Brown, Johnny Cash, Nick Cave und Amy Winehouse.
Musik, gehört oder assoziiert, spielt eine große Rolle im Werk Roland Schapperts und auch die Grenze zum Literarischen wird perforiert. Von der malerischen Seite der Zeichen eröffnet sich der Blick auf die Schnittstelle zur Notenschrift, zur Notation, zur Frage der Schwingungen und Tonhöhen in der Musik. Bei Roland Schappert durchragen sich die Künste, Medien und Disziplinen und bilden einen ernstleichtfüßigen Reigen. Facettenreich arrangiert er ein augenzwinkerndes Spiel mit der Kulturgeschichte und dem Alltagswissen.
Und er spielt mit der Sprache. Ein dem schwarzen LONELY-Werk ganz ähnliches Bild ist mit einem Hochformat von 40 x 30 Zentimeter etwas kleiner und läßt seine gleichartig angeordneten Buchstaben besser erkennen. Doch auch hier müssen wir Entzifferungsarbeit leisten, ehe wir die purpurnen Buchstaben auf weißem Leinwandgrund erkennen. Sie erscheinen unter einem eruptiv aufgetragenen braungelben Schellack-Farbfleck angegriffen und aufgelöst, verlaufen und verdichtet. Verschiedene Raumschichten erwachsen aus dem Einsatz verschiedener Lösungsmittel. Einzelne Buchstaben bangen um ihre Existenz. Roland Schapperts Kunst läßt uns erneut mit der Lesbarkeit kämpfen.
Ein drittes Bild rebelliert zusätzlich gegen die Eindeutigkeit. Nur scheinbar herrscht auf dem 42 x 29,8 Zentimeter großen Werk die Klarheit von sechs mit rotierendem Pinsel aufgetragenen Buchstaben auf weißem Papier. Zwar gibt es nun keine Angriffe von Harzen oder Lacken auf die friedlichen Purpurpigmente mehr, dafür aber ist das N so geschrieben, daß wir auch V lesen können. Aus LONELY wird LOVELY. Und hinter diesem lieblichen Wort öffnet sich der Abgrund der Vieldeutigkeit und der frei flottierenden Bezüge. Wir können nicht mehr an unseren noch so lieben Gewohnheiten in unserer kleinen aus gedeuteten Welt kleben bleiben. Roland Schappert reißt uns mit der spielerischen Kraft seiner Motivmutation aus Trott und Selbstverständlichkeit los. Er rettet die Polysemie.
Die Sprache trennt die Geschichte von der Vorgeschichte, die nach Schiller für die Nachwelt verloren ist. In seiner Jenaer Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“ schreibt er: „Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren.“ Die Sprache ist wesentliches Element unserer Kultur – und Roland Schappert verwischt sie. Genauer: Er verwischt die Schrift und verwandelt damit ein lesbares Zeichensystem in ein Bild voller Vermutungen, Bedeutungsverluste, Entzifferungsversuche. Der Buchstabe wird zur Hieroglyphe.
Besonders eindrücklich gelingt diese Verschiebung in einem 90 x 62,5 Zentimeter großen Papierbild, das auf dem roten Untergrund aus Rostschutzfarbe verwischte Kreideschrift trägt. Höchstens einzelne Buchstaben sind noch zu erkennen, der Rest ist Geste und Wink, Bild und Struktur. Indem diese Auslöschungen auf das Auftragen von Firnis zurückzuführen sind, kehrt sich die Intention des Bewahrens um. Der schützende Überzug verwandelt sich hier in ein zerstörerisches und zersetzendes Element. Auch das Papier arbeitet, schlägt Wellen und bildet seine eigenen Verschattungen. Wenn wir uns erneut Zeit nehmen für das sinnlichintellektuelle Spiel Roland Schapperts, entdecken wir die Schichten des Werkprozesses. Durch die Zerstörungen eröffnet sich in der roten Oberfläche eine tiefenräumliche Dimension. Zeitlichkeit und prozesshafte Auflösung lassen zudem an die mittelalterlichen Abschabungen und Wiederbeschriftungen antiken Pergaments denken: Palimpsest.
Roland Schappert geht über die von Derrida diagnostizierte „Erniedrigung der Schrift“ hinaus. Die Schrift wird nicht mehr nur durch die Stimme als erfüllt gesprochenes Wort verdrängt, sondern von der Hand des Künstlers durchgestrichen. Diese Verwischung der verletzlichen Kreideschrift im Kunstwerk will nicht zum gesprochenen Wort zurück, sondern ganz zurück, hinter die Sprache. Indem nur das bildhafte Zeichen fern jeder Bedeutung übrigbleibt, wirft uns die Kunst ins vorsprachliche Zeitalter. Doch durch diesen radikalen Entzug gewinnt die Schrift erst wieder ihre Seele. Wir denken über das Vertraute und scheinbar Selbstverständliche nach. So erhält der Betrachter das Angebot, die Gewöhnlichkeit mit dem Gewohnten abzustreifen. Er ist nun frei, sich offenzuhalten für den Zuspruch der Kunst.
Zusammengehalten und getragen werden die einzelnen Kunstwerke nicht zuletzt durch Roland Schapperts Raumkompositionen. Er arrangiert Lichtquellen zu Lichtskulpturen, die ständige Beleuchtungswechsel verursachen und die Kunst in ihrer Zeitabhängigkeit erkennen lassen. Gleichzeitig stellt das Licht Beziehungen im Raum her und vereint die Einzelwerke durch wechselseitige Verweise zu einem Ensemble. Eine alte defekte Diskokugel, einige ihrer Kleinstspiegel sind herausgebrochen, ruht in einem Metallgestell auf dem Boden und streut unregelmäßig Licht auf die Wände des Ausstellungsraumes. Genau darüber, an einem motorbewegten Draht neben einem Halogenspot von der Decke gelassen, hängt ein Spiegelbruchstück. Sein heller Schein wandert über die Werke und hebt – von Zeit zu Zeit – das eine oder andere heraus. Bei jeder Umdrehung bleibt der Draht kurz an dem Spot hängen und die Lichtkomposition verliert für wenige Sekunden ihren Rhythmus. Erschütterungen, Verweise, Fokussierungen. So gestaltet Roland Schappert die Licht- und Zeitabhängigkeit seiner Kunsträume. Auch die Lesbarkeit der einzelnen Schrift-Bilder ändert sich extrem. Je nach Betrachterstandpunkt verschwinden Buchstaben und erscheinen wieder. Verschiedenfarbige Lichtquellen konkurrieren mit dem Sonnenlicht. Inszenierte Spontaneität. Ein Spiel mit Gabe und Entzug. Flexibilität und Veränderbarkeit, Kippfiguren und Brechungen. Die Kunst denkt mit ihren Mitteln.
Reflect me the light, Künstlerbuch, Hardcover, 96 Seiten mit 113 Abb. und Texten von Stefanie Kreuzer, Annette Tietenberg, Thomas Wulffen und Arne Zerbst, deutsch/engl., Salon Verlag, Köln 2009. ISBN 978-3-89770-318-6