Es gibt nicht nur
einen Nabel der Welt

Roland Schapperts Gemälde

Thomas Wagner, 2010

 

These are the days of miracle and wonder
This is the long distance call
The way the camera follows us in slo-mo
The way we look to us all
The way we look to a distant constellation
That’s dying in a corner of the sky
These are the days of miracle and wonder
And don’t cry baby, don’t cry
Don’t cry

Paul Simon, „The Boy In The Bubble“


I.

Es zeigt sich etwas, will ins Offene gelangen. Zugleich aber taucht es ab, scheint sich zu verlieren. Vor unseren Augen spielt sich eindeutig etwas ab, materialisiert sich, erscheint und verschwindet, erhebt sich aus der Fläche oder versinkt in der Materie. Farben und Buchstaben, Bildhaftes und Zeichenhaftes mischen, überlagern und durchdringen sich. Für den Moment fixiert breiten sie sich aus und bilden einen überschaubaren Bestand.

II.

Nicht, dass wir glauben, wir verstünden, was auf Roland Schapperts Leinwänden geschieht. Das Bild ist niemals mehr ganz nackt, niemals kehrt es zurück zu seinem Ursprung, der nur als abwesender gegenwärtig bleibt. Der Kommentar bleibt ein Parasit der Erfindung, geht eine Symbiose mit ihr ein, die beide untrennbar aneinanderbindet. Was aber folgt daraus für das Ereignis des Bildes, wenn die Erfindung derart von ihrem eigenen Kommentar durchdrungen ist, sich nicht mehr von diesem abtrennen lässt? Was, wenn sich Bild und Wort zu einer verschwiegenen Sichtbarkeit zusammenschlössen, in der das Bild vom Wort gefärbt und das Wort von Farbe vollgesogen wäre? Oder wird der Kommentar etwa vom Bild aufgesogen, das Bild von einem anderen Sinn als einem bildhaften überschwemmt? Ist es, in unseren so wenig ursprünglichen Tagen, in denen das Hereinbrechen des Neuen zwar beständig beschworen wird, aber ebenso hartnäckig ausbleibt, überhaupt noch vorstellbar, dass nichts anderes sei als ein Bild, wir also imstande wären, nichts als eine begrenzte Fläche aus Farbpartikeln zu sehen, ohne sogleich nach deren Bedeutung zu fragen, ohne, was wir zu sehen glauben, sofort einzusortieren und uns eine Bedeutung zurechtzuzimmern? Und wozu? Damit wir nicht ratlos und fremd davor stünden? Damit wir uns beruhigten am Selbsterzeugten? „Wir schwimmen“, sagt Vilém Flusser, „in einer Flut von Drucksachen, von mit Farbe beklecksten Papierblättern. Nicht Inschriften, Aufschriften sind die uns badenden Schriften.“


III.

Roland Schapperts Gemälde, die zumeist Bild-Objekte oder Reliefs auf Leinwand sind, benutzen Aufschriften, scheinbar flüchtig auf die Oberfläche gewürfelte Buchstaben und Worte. Deren dokumentarische Absicht, uns betreffs einer Botschaft zu unterrichten, aber ist nachhaltig gestört. Die Buchstaben scheinen sich aufzulösen, sich im Farbgrund zu verlieren oder allererst aus ihm aufzutauchen. Ihre Anordnung in lesbaren Zeilen ist zudem unterbrochen. Mühsam und verwirrt folgt das Auge den Schriftzeichen, tastet Zeile um Zeile ab, um doch noch einen Sinn herausbuchstabieren zu können. Nichts als eine Beule in der Materie des Bildes scheint ein Buchstabe zu sein, eine Wölbung, die wir freilich sofort danach befragen, ob sie uns etwas mitzuteilen hat. Und so lesen wir im geschwärzten, wie von Ruß übertünchten Fliederton des Gemäldes „o.T. (Nabel der Welt)“ aus dem Jahr 2009, Zeile für Zeile: NABE – LDER – WELT.


Selbst wenn wir die Buchstaben in konventioneller Weise verbunden und den Namen „Nabel der Welt“ entziffert haben, besteht das visuelle Feld in seiner zentrumslosen Unübersichtlichkeit fort. Wie eine Mahnung oder ein Menetekel. Von einem „Mittelpunkt“, gar der Welt, ist weit und breit nichts zu sehen. Oder suggeriert das Gemälde etwa, „Nabel der Welt“ sei eben das Geschehen des Benennens und des Zur-Sprache-Kommens? Dreht sich die Welt also um Blick und Sinn, deren Gabe und Verlust? Steht im Zentrum die Dialektik von eidos und logos, von Bild und Geist? Oder kehrt in unserer Anstrengung lediglich die Skepsis Ludwig Wittgensteins wieder, der die Ergebnisse der Philosophie mit Beulen vergleicht, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat?

IV.

All das halten Roland Schapperts Gemälde aus und im Spiel. Sie schlagen sich nicht auf eine Seite, entscheiden sich nicht, wo sie hingehören, ob allein zum Bildhaften oder zum Zeichenhaften. Sie verzichten darauf, nur Erscheinung oder nur Erklärung sein zu wollen. Bewusst lassen sie in der Schwebe, was sie sind und was sie bedeuten. Sie heben die Differenz auf, halten sie gegenwärtig und stellen sie uns vor Augen. Und sie sind vom Bewusstsein durchdrungen, dass ihnen aus der Perspektive des Betrachters immer beides zugedacht wird, Empfundenes und Gelesenes, Bild und Kommentar, visuelle Repräsentation und verbale Äußerung, Materie und Geist. Sie stellen sich der Unabweisbarkeit ihrer Transformation, indem sie selbst zu Transformatoren werden. Oder, anders gesagt, sie saugen auf, was in Moderne und Postmoderne an diskursiven Partikeln um das Bild kreist, so wie ein Himmelskörper aufgrund seiner Gravitation kosmischen Staub anzieht. Dadurch werden sie zu etwas, das nicht nur Bild ist, sondern Wink und Allusion, Kommentar und Geste, Palimpsest und Remix in einem. In ihnen wird, was sich zeigt, permanent übermalt und immer wieder überschrieben wie eine Datei. Sie beschleunigen den permanenten Fluss der Zeichen, deren Zirkulation nie endet, und sie bremsen ihn doch an ihrer eigenen Materialität ab. Und zugleich transzendieren sie ihre eigene Materialität, weil in ihr all die Zeichen auftauchen oder abtauchen, die in sie hineingelegt oder hineingesehen werden.

V.

Der Integration des Sprachlichen ins Bild kommt innerhalb der Grenzüberschreitungen der Kunst des 20. Jahrhunderts eine herausragende Bedeutung zu. In der Kunst Roland Schapperts wird Sprache einerseits in das Werk integriert. Sie wird zum Medium der bildenden Kunst. Andererseits wird sie zu einem Kommentar, der seinerseits von der Seite des Bildes aus kommentiert wird. Auf diese Weise wirkt das Bild integrativ. Indem der Zeilenumbruch die Wortgrenzen ignoriert, die Linearität und die zeitliche Kontinuität des Lesens zugunsten eines Erfassens des gesamten Bildfeldes aufgegeben wird, befragt das Bild als realer Raum aber auch den Sinn, der an seine Oberfläche drängt, um sich zu offenbaren. Das Wort wird Bild und das Bild erscheint infiziert vom Wort. Statt mit Eindeutigkeit, bekommen wir es mit einem Wechsel der Bedeutung und der Beleuchtung zu tun. In Schichten überlagert sich, was wir sehen und was wir verstehen. Das führt dazu, dass wir nicht nur eines Bildes ansichtig werden, sondern der Konstruktion unterschiedlicher Modelle von Wirklichkeit beiwohnen können. Roland Schappert bringt somit Bild und Sprache, visuelle und verbale Bedeutung gleichsam am Nullpunkt einer poietischen Metaphysik zusammen.

VI.

Das Bild badet uns in Aufschriften so gut wie in farbiger Materie. Auf der Suche nach einem Motiv aber geht es in die Irre. Wie zum Ausgleich findet es in der Sprache und ihren Zeichen etwas, das konkret und abstrakt zugleich ist und auf etwas jenseits seiner selbst hinweist. Ist das nicht auch bei der Rede von einem „Nabel der Welt“ der Fall? Gibt es ihn wirklich oder ist er nur eine Metapher? Ist er ein Bild, das spricht, oder Teil einer Sprache, die mit Bildern arbeitet? Offenbar liegt im Spiel mit Materie und Geist immer etwas Melancholisches.

NO MAN’S LAND, Katalog, Hardcover, 64 Seiten, mit ca. 45 Farbabbildungen und Texten von Andreas Bee und Thomas Wagner, deutsch/engl., Salon Verlag, Köln 2010. ISBN 978-3-89770-365-0